Schwierig: Ernst Niekisch

Ernst Niekisch, der von 1937 bis 1945 im Zuchthaus Brandenburg inhaftiert war, ist eine schillernde Persönlichkeit. Seine erschreckenden antijüdischen Ressentiments (die erst 1935 in der Schrift „Die dritte imperiale Figur“ auffällig hervortraten) sowie seine antikatholische und antiwestliche Rhetorik stehen im Widerspruch zu seinem tatsächlichen Handeln.

Gerade sein Verhalten nach 1945 – und seine geschönte Autobiographie – dienten den jungen „Nationalrevolutionären“ der 70er und 80er Jahre als Orientierung. Wie schwierig es ist, Ernst Niekisch objektiv zu beurteilen, macht auch Herbert Ammon in seinem Aufsatz vom 16.06.2014 in der Online-Zeitschrift Globkult deutlich. Wir dokumentieren einen Auszug:

„ … Mit der Druckausgabe der Dissertation von Matthias Stangel: Die Neue Linke und die nationale Frage. Deutschlandpolitische Konzeptionen und Tendenzen in der Außerparlamentarischen Opposition (APO), Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2013, 638 Seiten, liegt ein Buch vor, das sich der nationalen Unterströmung der aufgrund ihres antifaschistischen Protestgestus meist als »antinational« gedeuteten »Neuen Linken« – ein Anfang der 1960er Jahre hauptsächlich aus England und den USA importierter Begriff – widmet. Es bietet zu dem einerseits bereits weit entrückten, andererseits von der zeitgenössischen Linken gemiedenen Thema eine durch umfangreiches Archivmaterial fundierte Darstellung.

In einem theoriegeschichtlich angelegten Kapitel über das Verhältnis der Linken zur »nationalen Frage« erhellt das Buch unter anderem die Rolle, die in der Latenzphase der Revolte Ernst Niekisch als Mentor der sich radikalisierenden Studenten spielte. Seine Autorität auf der Linken verdankte Niekisch seiner wechselvollen Biographie: vom linkssozialistischen Revolutionär in den Tagen der Münchner Räterepublik zum »nationalbolschewistischen« Gegenspieler Hitlers. 1937 mit den Anhängern seines »Widerstand«-Kreises verhaftet, wurde Niekisch 1939 vom »Volksgerichtshof« zu lebenslänglich Zuchthaus verhaftet und 1945, nahezu erblindet, von sowjetischen Soldaten aus dem Zuchthaus Brandenburg befreit.

Auf der Linken von Leuten wie Georg Lukácz  und Wolfgang Abendroth  als »furchtloser Streiter gegen die Barbarei« (Abendroth, zit. in Stangel, S. 117) geschätzt, trat Niekisch 1962 als ordentliches Mitglied der »Förderer-Gesellschaft« des ein Jahr zuvor von der SPD verstoßenen SDS bei, kandidierte sogar für deren Kuratorium. Hatte er 1950 in einem Brief an Ernst Jünger noch  einmal seine Ablehnung »der Überfremdung durch den westlichen, vor allem auch amerikanischen Imperialismus […], den ich damals schon im Bunde mit der römisch-katholischen Kirche sah« (zit. ibid., 116, Fn. 370), bekundet, so teilte er in den 1960er Jahren mit den »neulinken« Studenten das Interesse an den Werken von Ernst Bloch, Georg Lukácz, Frantz Fanon sowie an der 1966 bei Rowohlt erschienenen Theorie des Guerillakriegs Mao Tse-Tungs.

Auf Herbert Marcuse, der in den 1960er Jahren zum geistigen Heros des neulinken Protests avancierte, mochte sich Niekisch nicht näher einlassen. An seinen Mitstreiter Joseph E. Drexel, den 1945 aus dem KZ Mauthausen befreiten Verleger der Nürnberger Nachrichten, der ihm von einem Vortrag Marcuses berichtete, schrieb Niekisch schon 1962: »Auch für mein Gefühl treibt Marcuse seinen Feldzug gegen die Tabus zu weit. Gewisse soziale und politische Tabus sind nötig, um Ordnungsformen aufrechterhalten zu können. Die Zerstörung von Tabus ist immer ein Beginn des Zersetzungsprozesses jener Formen.« (Zit. ibid., S. 120 f., Fn. 386)

Zu Niekisch kamen nicht nur Westberliner FU-Studenten wie Urs Müller-Plantenberg, der zeitweilige SDS-Landesvorsitzende Tilman Fichter, Bernd Rabehl, Klaus Meschkat (laut Rabehl) und andere. Die Frau des späteren FU-Professors und neulinken Parlamentarismus-Kritikers Johannes Agnoli half im Niekisch-Haushalt. Zu den Lesern zählte auch Rudi Dutschke, der allerdings Vorbehalte gegenüber Niekischs Sympathien für die »halb-asiatische Zaren-Maschine« Russland anmeldete (ibid., S. 122). 1979, als in der Zeitschrift LINKS (des Sozialistischen Büros) eine Debatte darüber einsetzte, wo Niekisch angesichts seines einstigen radikalen Nationalismus ideologisch zu verorten sei, verteidigte der Hannoveraner Politikwissenschaftler und frühere SDSler Jürgen Seifert (1928-2005) dessen Denken als den »Geist, der die ›Rote Kapelle‹ möglich machte« (zit. ibid.).

Im Rückblick auf seine – von mancherlei Fehlwahrnehmungen geprägten – nationalrevolutionären Kampfschriften gegen »Versailles« und den Westen, gegen das Bürgertum und gegen Hitler schrieb Niekisch im Oktober 1966, sieben Monate vor seinem Tode, an Drexel: »Nach so langem Abstand ist man über sich und seine eigenen Gedanken erstaunt… Meine Interpreten knacken sich die Zähne an mir aus« (zit. ibid., Fn. 394) …“

Wer heute über Ernst Niekisch spricht und dessen spätere selbstkritische Aussagen nicht beachtet, erweckt den Verdacht, dass er Ernst Niekisch politisch missbrauchen will.